Hochsensibilität im Alltag: Was bedeutet es, hochsensibel zu sein?
- Sandra Hannesen

- 8. Nov. 2024
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 9. Nov. 2024
Der grüne Duft meines Matcha Lattes kitzelt meine Nase während ich im Meer der Stimmen um mich herum zu ertrinken scheine. An meinen noch kühlen Strohhalm aus Glas klammernd versuche ich meinem Gegenüber zuzuhören. Doch sind es nicht nur seine Worte, die an mein Ohr dringen und deren Sinn mein Gehirn mit Hochleistung versucht eine Bedeutung zu geben. Es sind auch dessen Emotionen, die fast lauter und bunter sind, als alles das, was ich an auditiven Informationen von ihm aufnehme. Hier und da werde ich mir der Gespräche um uns herum bewusst. Zum Beispiel die Frau, die drei Tische vor uns aufgebracht aber leise versucht ihrer Begleitung eine Situation zu erklären, während ER versucht sie mit sanfter Stimme zu beruhigen. Ihre Emotionen schwappen zu mir herüber und reißen mich von meinem Gespräch weg. Mein Strohhalm. Ich nutze ihn als Anker und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf meinem Gegenüber. Lasse die Gefühlswellen der Frau an mir vorüber ziehen und merke, dass ich ein paar wichtige Sekunden meines Gespräches nun verpasst habe. Er schaut mich etwas irritiert an, redet aber weiter, nachdem ich ihm zustimmend zunicke.
Im nächsten Moment spüre ich eine Veränderung hinter mir und schon kämpfe ich dagegen an, meinen Fokus auf meinen Gesprächspartner zu verlieren. Es ist wie ein nervöses Flackern, was mein Herz schneller schlagen lässt. Ich schaue mich suchend um, ohne zu wissen, was mir in diesem Moment fehlt. Aber ich finde es nicht mehr. Es ist weg. Mein Blick fällt auf das Handy, das unter der viel zu bunten Getränkekarte begraben liegt. Die Frau hinter mir, die gerade, während sie ihre Jacke anzieht, irgendetwas zu suchen scheint, wird immer hektischer und schaut auf ihre Armbanduhr. Sie scheint es eilig zu haben. ‚Wer hat heutzutage noch eine Armbanduhr?’ frage ich mich in Gedanken, während ich sie schon anspreche „Ihr Handy liegt unter der Karte“.
Mist. Ich entschuldige mich bei meinem Gesprächspartner und nehme mir vor, nun wirklich alles um mich herum auszublenden, während die Emotionen meiner Umwelt weiterhin wie bunte Farbwellen um mich herum und durch mich durch spülen.
Vielleicht liest du diese Zeilen und denkst dir: Ja, so etwas kenne ich auch. Vielleicht hast du sogar das Gefühl, dass die Welt um dich herum manchmal ein wenig „zu viel“ ist – zu laut, zu voll, zu intensiv. Oder du fühlst Dinge, bevor du sie in Worte fassen kannst, und spürst die Stimmung in einem Raum, sobald du ihn betrittst. Wenn du dich darin wiederfindest, könnte es sein, dass du zu den 15–20 % der Menschen gehörst, die hochsensibel sind.
Aber was bedeutet Hochsensibilität eigentlich genau? Und wie kannst du lernen, mit dieser Empfindsamkeit zu leben und sie als Teil von dir anzunehmen?

Was ist Hochsensibilität
Hochsensibilität ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das vor allem mit einer intensivierten Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen einhergeht. Die amerikanische Psychologin Elaine N. Aron hat diesen Begriff geprägt und herausgefunden, dass Menschen mit Hochsensibilität Informationen – seien es Geräusche, Gerüche, Farben, oder auch Stimmungen – tiefer und oft auch unbewusst auf mehreren Ebenen gleichzeitig verarbeiten. Hochsensibilität ist keine Krankheit, kein Makel und auch keine Schwäche. Es ist einfach eine andere Art, die Welt wahrzunehmen.
Merkmale hochsensibler Menschen
Vielleicht erkennst du dich in manchen dieser Merkmale wieder:
Intensive Wahrnehmung: Dinge, die andere gar nicht bemerken – der Duft deines Getränks, ein leises Flüstern im Raum, Helligkeit – springen dir sofort ins Auge oder in die Nase. Deine Sinne arbeiten oft auf Hochtouren. Nimmst du subtile Veränderungen in deiner Umgebung wahr, die anderen möglicherweise entgehen?
Emotionale Tiefe: Deine Gefühle sind intensiv, oft überwältigend, und du spürst auch die Emotionen anderer Menschen stark mit. Manchmal ist es, als würdest du ihre Gefühle „mitschwingen“.
Tiefgehende Verarbeitung: Du denkst lange über Erlebnisse nach, reflektierst und analysierst. Oberflächliche Eindrücke und flüchtige Gespräche berühren dich oft weniger als tiefgründige Verbindungen und Gespräche
Hochsensibilität im Alltag
Als hochsensibler Mensch kann der Alltag manchmal anstrengend sein. Vielleicht kennst du das Gefühl der Überforderung, wenn du von zu vielen Reizen umgeben bist. Laute Umgebungen, Menschenmengen oder stressige Situationen wirken auf dich möglicherweise intensiver als auf andere. Auch die ständige Wahrnehmung der Emotionen anderer kann ermüdend sein. Es ist, als ob dein System ständig auf Empfang steht, und manchmal gibt es einfach zu viele Signale.
Das kann dazu führen, dass du schneller an deine Grenzen kommst, vielleicht sogar das Gefühl hast, „ausgebrannt“ zu sein, obwohl du dich gerade erst mit anderen Menschen getroffen hast. Diese Reizüberflutung und emotionale Erschöpfung sind Herausforderungen, die viele Hochsensible kennen.
Strategien für den Umgang mit Hochsensibilität
Auch wenn die Empfindsamkeit im Alltag manchmal herausfordernd ist, gibt es Wege, damit besser umzugehen und deine Hochsensibilität als Stärke zu nutzen. Hier ein paar Ansätze, die dir helfen können
Selbstakzeptanz: Lerne, dich und deine Hochsensibilität zu akzeptieren. Du musst nicht so sein wie andere, die vielleicht alles „wegstecken“ oder sich nicht so leicht ablenken lassen. Deine Empfindsamkeit ist ein wertvoller Teil von dir, der dich zu einem tiefgründigen, empathischen Menschen macht
Schaffe dir Rückzugsorte: Jeder Mensch braucht Pausen, aber für Hochsensible sind diese Pausen besonders wichtig. Schaffe dir Räume, in denen du zur Ruhe kommen kannst. Das kann eine gemütliche Ecke in deiner Wohnung sein oder ein Platz in der Natur, wo du deine Sinne beruhigen und neue Kraft tanken kannst. Gestalte diese Rückzugsorte bewusst so, dass sie dir Geborgenheit bieten – ob durch beruhigende Farben, eine Kerze oder einfach Stille
Zeitmanagement: Hochsensible brauchen oft länger, um sich zu regenerieren. Plane daher bewusst Pausen ein, und lege dir einen strukturierten Tagesablauf zurecht. Es kann helfen, feste Zeiten für Arbeit, Erholung und kreative Tätigkeiten festzulegen, um die Balance zu halten. Rituale, wie eine Tasse Tee am Morgen oder ein Spaziergang am Abend, können dir helfen, den Tag ruhig zu beginnen und abzuschließen
Achtsamkeit und Meditation: Übungen wie Achtsamkeitsmeditation oder Atemtechniken können dir vielleicht helfen, im Moment zu bleiben und die Reize um dich herum bewusst wahrzunehmen, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Diese Techniken können dich darin unterstützen, deinen Fokus bewusst zu lenken und eine innere Ruhe zu finden
Grenzen setzen und „Nein“ sagen lernen: Gerade Hochsensible haben oft den Drang, anderen zu helfen oder sich für sie aufzuopfern. Doch deine Energie ist wertvoll. Lerne, deine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und deine Grenzen zu setzen – auch wenn es manchmal schwerfällt
Medienkonsum bewusst gestalten: Nachrichten, soziale Medien oder intensive Filme können deine Gedanken und Emotionen lange beschäftigen. Achte darauf, wie du Medien konsumierst, und wähle Inhalte, die dir guttun. Gönne dir regelmäßig digitale Pausen und umgebe dich mit Inhalten, die dich inspirieren und stärken
Kreative Auszeiten: Nutze deine kreative Energie für Hobbys, die dich entspannen und glücklich machen – sei es Malen, Schreiben oder Musik. Kreativität kann ein Ventil sein, um Stress abzubauen, neue Kraft zu schöpfen und deine Gedanken zu ordnen. Sie ist mehr als nur ein Hobby – sie kann dir helfen, deine Empfindungen auszudrücken und neue Kraft zu schöpfen
Abgrenzung üben: Eine wichtige Frage, die dir helfen kann, dich vor Überflutung zu schützen, ist „Ist das meins?“. Wenn du die Emotionen anderer intensiv wahrnimmst, ist es hilfreich, zu prüfen, ob das Gefühl tatsächlich von dir kommt oder ob du es übernommen hast. Diese Frage kann dir helfen, bewusster mit deiner Empfindsamkeit umzugehen und dich weniger von der Gefühlswelt anderer überwältigen zu lassen
Gezielte Unterstützung: Manchmal ist es hilfreich, sich auf diesem Weg begleiten zu lassen. Coaching kann dir helfen, deine Sensibilität besser zu verstehen und Strategien zu entwickeln, die individuell auf dich zugeschnitten sind
Die Stärken der Hochsensibilität
Hochsensibilität ist nicht nur eine Herausforderung – sie bringt auch wunderbare Gaben mit sich. Vielleicht hast du dich schon gefragt, warum du oft so intuitiv auf Menschen eingehst oder die Schönheit in kleinen Dingen siehst, die anderen verborgen bleibt. Das sind Stärken, die dich als hochsensiblen Menschen auszeichnen:
Einfühlungsvermögen: Du spürst oft intuitiv, was andere bewegt, und kannst ihnen ein offenes Ohr und Verständnis schenken.
Kreativität und Fantasie: Deine Wahrnehmung ermöglicht es dir, Dinge aus neuen Perspektiven zu sehen und kreative Ideen zu entwickeln.
Sinn für Harmonie und Schönheit: Hochsensible Menschen haben oft ein besonderes Auge für Details, Farben und Stimmungen. Du erkennst die Schönheit in der Natur, in Musik oder Kunst
Tiefe Reflexion und Weisheit: Deine Fähigkeit, über Dinge intensiv nachzudenken, macht dich zu einer nachdenklichen und tiefgründigen Persönlichkeit. Deine Ratschläge sind gut durchdacht, und Menschen schätzen deine einfühlsame Perspektive
Du bist nicht allein
Dieser Satz ist ganz wichtig. Deshalb wieder hole ich ihn noch einmal. Achtung. Bist du bereit?
Du bist nicht allein!
Es gibt viele Menschen da draußen, die die Welt ähnlich intensiv erleben wie du. Hochsensibilität ist ein Geschenk, das dazu beiträgt, unsere Welt menschlicher, einfühlsamer und schöner zu gestalten. Du bist Teil einer Gemeinschaft, die tiefer fühlt, tiefer denkt und auf eine Weise sieht, die anderen verborgen bleibt. Es gibt Raum für deine Stärken – und die Welt braucht genau diese Gaben. Du bist nicht allein auf dieser Reise, und deine Gabe, die Welt tiefer wahrzunehmen, macht sie für dich bunter und reicher.
Fazit: Deine Hochsensibilität als Gabe
Hochsensibilität ist eine besondere Gabe, die dich bereichern kann, wenn du lernst, sie zu umarmen und zu nutzen. Du darfst dir Zeit und Raum geben, um dich selbst zu verstehen und deine einzigartigen Fähigkeiten zu schätzen. Du bist ein Geschenk für die Welt – mit all deinen Empfindungen, deiner Kreativität und deinem feinen Gespür für das Wesentliche.
Ich erkläre es gerne anhand eines Diamanten. Ein Diamant ist ungeschliffen nahezu unscheinbar. Nur Menschen, die bereits Rohdiamanten gesehen haben, würden ihn in der Natur erkennen.
Jeder Einzelne von uns ist ein Rohdiamant. Hier und da hat er bereits geschliffene Stellen, die so wundervoll glitzern und leuchten. Und - je nach Sonneneinstrahlung - ihr farbenfrohes Bild in die Welt hineinstrahlen. Hochsensibilität ist genauso vielfältig und individuell, wie jeder einzelne dieser kostbaren Steine.
So gerne möchte ich dich einladen, dich mit anderen Hochsensiblen auszutauschen. Jeder von uns hat seine Wege gefunden, mit seiner Wahrnehmung umzugehen. Und ich wünsche mir so sehr für dich, dass du eines Tages voller Freude auf den Moment zurückblickst, indem du diesen Schritt gegangen bist, und du von solch einer Dankbarkeit erfüllt bist, dass du die Welt zum Leuchten bringst.
Wenn du bereit bist, diesen wundervollen Weg zu erkunden, würde ich mich freuen, dich auf deiner Reise begleiten zu dürfen. Hier findest du meine Kontaktinformationen.
Es gibt auch immer mehr Coaches und Therapeuten, die sich mit Hochsensibilität auskennen. Und Social Media eröffnet immer mehr Möglichkeiten, sich zu vernetzen.
Wenn du dich auf den Weg machst, wirst du sie finden.
📷 Foto von Julia Caesar auf Unsplash

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